Eine Orbis Occultus-Kurzgeschichte von Ralf Lemke (erschienen August 2023)
In den tiefen Wäldern von Eldoria, wo die Bäume weise Geschichten erzählten und die Sterne in der Nacht wie Diamanten funkelten, lebte ein ehrgeiziger junger Schüler der Magie namens Ashraf Hamza. Sein Anblick war von einer jugendlichen Schönheit geprägt, die von freundlichen Augen und einem warmen Lächeln begleitet wurde. Doch trotz seiner äußeren Anmut lag in seiner Aura eine sanfte Schüchternheit, die ihn oft veranlasste, verlegen den Blick zu senken, wenn junge Frauen kichernd seinen Weg kreuzten. Doch sein Herz verlangte nach etwas anderem als dem zarten Geschlecht, denn es brannte vor Verlangen danach, ein großer Magus zu werden, und seine ungeduldige Seele trieb ihn ständig an, nach mehr Wissen und Können zu streben. Jeden Tag begab er sich auf den langen Weg aus seinem Heimatdorf durch den Wald zum Turm des Erzmagiers Myron.
Er bewunderte Myrons unglaubliche Macht und seine Fähigkeiten überstiegen Ashrafs kühnste Träume; es erstaunte ihn immer wieder zu beobachten, mit welcher Eleganz Myron Mysterien beschreiben, die Geheimlehren erklären und die verborgene Natur des Universums vor ihnen entschleiern konnte. Allein mit ein paar magischen Worten formte er ganze Welten oder hob den profanen Schleier der Wirklichkeit vor seinen Schülern einfach einen Augenblick an. Es schien manchmal fast so, als ob er sich liebevoll um jedes Detail und Geschehen in der Welt persönlich kümmern würde – vom Aufblühen der Böden bis hin zur Formulierung neuer Rezepturen in der Heilkunst– in allem war ein Faden mit seinem Namen eingewoben und es war eine spielerische Leichtigkeit für ihn das zu beeinflussen an dem er Anteil hatte. Die Schöpfung schien sich ihm fügen, als hätte sie nur darauf gewartet, dass es ihm nach der einen oder anderen Sache verlangte! So brachte jeder Tag neue Abenteuer für Ashrafs lebendigen Verstand.
Er studierte eifrig die magischen Künste und übte sie mit seinen Mitschülern. Es schien ihm manchmal, als ob die Zeit in der Nähe von Myrons Turm im Einklang mit dem ruhigen Lied der Natur stand, während er jeden Tag fleißig lernte, um seinem innigsten Traum vom selbstbestimmten Leben als Magier näherzukommen.
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Doch Myron, sein weiser Meister, sprach zu Ashraf, als er seinen besonderen Ehrgeiz bemerkte: „Geduld ist der Schlüssel zur wahren Magie, junger Schüler. Die Magie verlangt nach Respekt und Hingabe. Eile nicht und erkenne zuerst dich selbst.“
Ashraf versuchte die Worte seines Meisters zu beherzigen, doch die Flammen des Ehrgeizes loderten übermächtig in ihm. Er wollte nicht warten, er wollte seine Fähigkeiten entfalten und die Welt als auch das Schicksal mit seiner Magie in ihre Schranken weisen. Er wollte seinen selbstdefinierten Platz in der Schöpfung einnehmen. Anstatt seine Gedanken zu zähmen, tauchte er tief in die Kunst der Ansammlung magischer Macht aus der Lebenskraft, die allem innewohnt, ein. Diese Kraft sei die quantitative Grundlage aller magischen Macht, so hatte Myron seine Schüler gelehrt.
In der Hoffnung, sich so schnell wie möglich zu einem mächtigen Magus zu entwickeln und das Ansehen unter den Seinigen zu erlangen, das er als sein Geburtsrecht betrachtete, verstrichen die Tage und Nächte, während Ashraf die Geheimnisse dieser einen Kraft ergründete. Er spürte die Kraft, die durch ihn floss in allem, und seine magischen Fähigkeiten nahmen schneller zu, als er es je für möglich gehalten hatte.
Schon bald folgten die Ereignisse immer öfter wie durch Zauberhand seinen Wünschen, ohne das er sie zum Ausdruck bringen musste. Myron spürte, dass es an der Zeit war, Ashrafs Übermut zu zügeln. Eines Abends trat er zu ihm, als dieser sich im Zwielicht nahe des geheimnisvollen Teiches zwischen den alten Trauerweiden verbarg, um ungestört seine Übungen zu absolvieren. Junger Schüler“, sagte er sanft, um ihn ein zweites Mal zu ermahnen, „du bist auf dem richtigen Weg, aber du musst Geduld haben und Dich zuerst selbst ergründen.“ Wenn du es zu eilig hast, kann die Macht dich von innen heraus überwältigen.“ Ashraf hielt mit seinen Übungen inne und dankte Myron, doch hielt er sich nicht an seinen Rat.
Ashraf war zu begeistert von der neuen Macht, der sich alles wie von selbst fügte und die ihm jetzt zur Verfügung stand. Doch gleichzeitig wurde er zunehmend ruheloser und reizbarer, wenn er nicht weitermachen konnte. Oft geriet er in Zorn gegenüber seinen Freunden, wenn diese ihn für Zerstreuungen zu gewinnen suchten, so dass diese ihn schon bald mieden. Auch den jungen Frauen am Wegesrand wich Ashrafs Blick, der inzwischen mit fast blendender kalter Klarheit alles durchdrang, nun nicht mehr schüchtern aus, auch wenn sie sich aufgrund der über die Grenzen seines Körpers hinaus vibrierenden Lebenskraft nach ihm verzehrten und manch unkeusche Dummheit anstellten, um seiner habhaft zu werden. Er verhielt sich ihnen gegenüber umso herablassender und abweisender, je mehr sie ihn begehrten und jagte sie unter wüsten Beschimpfungen fort, wenn sie sich ihm aufdrängten.
Monde vergingen, in denen Ashraf die dunklen Künste praktizierte, komplexe Rituale erschuf, die Lebenskraft einfingen und zu einem brodelnden Sturm der Energie in ihm formten. Er brauchte kaum mehr Schlaf und schien von unerschöpflicher Vitalität erfüllt. Es erfüllte Myron mit wachsendem Unbehagen und Sorge, als er bemerkte, mit welcher Schnelligkeit es dem jungen Schüler nun gelang, immer fortgeschrittenere magische Fertigkeiten zu entfalten, ohne sie wirklich zu beherrschen.
Noch einmal wandte sich Myron an seinen Schüler, um ihn ein drittes Mal zu warnen: „Deine Fähigkeiten entwickeln sich zu schnell Ashraf. Ich fürchte, wenn du nicht gleich beginnst dich selbst zu erkennen und zu beherrschen, wirst du bald ganz von dem beherrscht, das du aufschobest zu erkennen.“ Doch Ashraf blieb unbeeindruckt und ließ sich nicht davon abbringen, sich wie in einem nicht enden wollenden Rausch immer tiefer in seine Praktiken zu vergraben und immer noch mehr des heiligen Lebens in sich zu versammeln. Dabei bemerkte er nicht, wie seine eigenen Gedanken und Gefühle still und heimlich im Schatten seiner eigenen Seele wesenhafte Gestalt annahmen, als tränken auch sie von dem erstarkenden Elixier, das er in sich versammelte.
Eines sternenklaren Abends, als Ashraf in Mauern einer verlassenen Einsiedelei, in der er sich vor Myron und den anderen Schülern listig verbarg um deren Mahnungen zu entgehen, spürte er eine unheimliche Gegenwart um sich herum. Ein kühler Wind strich durch den Raum, und ein leises Flüstern wie tausend Stimmen drang in seine Ohren. Seine eigenen Gedanken und Gefühle waren zu äußerem Leben erwacht, sie waren zu eigenständigen Wesenheiten geworden. Doch Ashraf erkannte sie nicht, denn für den jungen Adepten kleideten sie sich in für ihn reizvolle Gestalten dienstbarer Geister. Dies fiel ihnen umso leichter, da Ashraf nicht nach Selbsterkenntnis gestrebt und die entsprechenden Übungen vernachlässigt hatte, die ihn hätten ihre wahre Natur erkennen lassen.
Unter dem Deckmantel des weisen Rates höherer Sphären begannen sie Ashraf zu beeinflussen. Sie flüsterten ihm Träume von unermesslicher Kraft und Unsterblichkeit ein, sie zeigten ihm Visionen von Ruhm und Anerkennung. Ashrafs ungeduldiges Herz fand sich gefangen im Netz der verführerischen Versprechungen und Verlockungen die ihm die übermächtigen Wesensteile seines eigenen Selbst einflüsterten. Sie hatten sich verselbstständigt und begannen, sein Schicksal zu lenken.
Zuerst führten sie ihn an die verbotenen Orte jenseits der Grabstätten von Tales und weit fort von Myron, denn diesen fürchteten sie, wie der Teufel das Weihwasser. In den Ruinen eines alten Tempels offenbarten sie ihm dort die im Stein verewigten Inschriften eines uralten magischen Volkes, das völlig mit der Kraft in allem verwoben war und wahre Meisterschaft in der Kanalisierung selbiger erreicht hatte.
Ashraf staunte, sie hatten die Techniken so weit entwickelt, dass alle bekannten magischen Übungen und Disziplinen wie hilflose Versuche von im Dunkeln herumtappenden Kindern erschienen. So erfüllten sie Ashraf mit weiterem Verlangen und Tatendrang; sie trieben ihn an seine Fertigkeiten in der Zuführung neuer Lebenskräfte immer weiter zu vervollkommenen, welche sie die dann heimlich verzehrten, um sich mehr und mehr zu eigenem Leben zu verdichten.
Doch während er seine Rituale und Techniken immer weiter entwickelte, wurden auch die Schleier, die das Licht der Erkenntnis abgewehrt hatten, durch die ausufernde wilde Kraft die in ihm tobte immer dünner und auch für den abtrünnigen Teil seiner selbst immer unbeherrschbarer.
So geschah es das Ashraf doch jene Eigenschaften in den Geistern zu erkennen begann, vor denen Myron ihn so eindringlich gewarnt hatte, als Ashraf eines Tages aus einer nahe der Ruinen gelegenen Schlucht ein leises Wimmern vernahm und vorsichtig über den Rand spähte. Auf einem Felsvorsprung über dem Abgrund erkannte er Rusinav einen seiner Mitschüler, der ihm zu Beginn seiner Lehrzeit bei Myron ans Herz gewachsen war, da er ihn durch seine Ungeschicklichkeit fortwährend zum Schmunzeln brachte. Rusinav, der sicher nach ihm gesucht hatte, schien beim Klettern abgerutscht zu sein und hatte sich wahrscheinlich einige Knochen gebrochen, so daß er sich selbst nicht mehr aus seiner misslichen Lage befreien konnte.
Seinem ersten Impuls folgend wollte er sich vorbeugen und sich seinem alten Gefährten zu erkennen zu geben. Doch er schien unfähig sich zu bewegen und sogleich war er von seinen hilfreichen Geistern umringt, die ihm eindringlich zuflüsterten: „Schweig still, willst Du denn alles verderben, für das du so hart gearbeitet hast. Du wirst ihm helfen und zum Dank wird er Myron zu dir führen und was dann? Er wird dich mit seiner Macht von deinem eingeschlagenen Weg abbringen, wird nicht dulden, dass einer größer in der Magie ist als er. Und was dann?“
Da erkannte Ashraf die wahre scheußliche Gestalt der Wesen durch den Schleier der von ihnen gewirkten täuschenden Erscheinung. Diese aus ihm selbst hervorgegangenen dämonischen Kreaturen hatten aufgequollene pulsierende Leiber und wirkten wie eine groteske Mischung aus Mensch und Tier – mit gefräßigen Mäulern, die mit scharfen Zähnen übersät waren wie die eines Wolfes, und Augen, die funkelten wie die eines habgierigen Greifvogels. Ihre Klauen, hart wie das Eisen der tiefsten Minen, schienen immer danach zu gieren, alles zu ergreifen, was ihnen in die Hände fiel. Man konnte kaum sagen, wo eine Kreatur endete und die andere begann, als wären sie ineinander verwachsen. Ein dunkler Nebel umgab sie, als ob die Gier in ihrer Natur die Luft selbst verdunkelte und ihre Anwesenheit mit einer Aura des Unheils umgab.
Er erkannte mit lähmendem Schrecken, dass sein Wunsch, ein großer Magus zu werden, ihn zu einem Werkzeug seiner eigenen ungeduldigen, selbstsüchtigen Begierde gemacht hatte. Ashraf versuchte verzweifelt, den Sturm seiner eigenen Sehnsuchtswesen zu bezwingen, doch es war bereits zu spät – sie kontrollierten längst ihn. Die Wesensteile hatten sich in ihm festgesetzt und zusammengeballt wie ein zweites Ich; seine Handlungen folgten nicht länger seinem eigenen Willen, sondern waren nichts weiter als das Ergebnis der Bestrebungen dieses anderen Ichs – weit entfernt vom Licht der Freiheit.
Von Rusinav hörte man nie wieder etwas, aber man erzählt sich, dass die lebende Hülle von Ashraf Hamza bis heute, vom wechselhaftem Wahnsinn besessen durch die tiefen Wälder Eldorias zieht, um alles Leben an sich zu reißen, dessen er habhaft werden kann. Auch wenn selbst der Tod ihn nicht finden kann, da Ashraf gelernt hat, den Strom des Lebens auf sich zu ziehen, so verzehren ihn doch seine Dämonen, die er nie zu bändigen lernte täglich aufs neue in einem Prometheus gleichem Schicksalslauf.
Und so endete die Geschichte von Ashraf Hamza, dem ehrgeizigen Schüler der Magie, der die Weisheit der Selbsterkenntnis übersehen hatte und von den eigenständigen Wesenheiten seiner ungeduldigen Träume verschlungen wurde. Eine Lehre für alle, die den Weg der Magie beschreiten – die wahre Macht kommt nicht durch Eile und Ehrgeiz, sondern durch Hingabe und das Verständnis der eigenen inneren Welt.